Leseprobe - Milli

Milli und das Lied des Drachen

Prolog
 

Schweißgebadet wachte Milli auf. Ihr Herz raste, ihre Finger zitterten und ihr Atem wollte sich einfach nicht beruhigen.

Gemini, ich rufe dich,
mit Kassiopeias Stimme.
Ein neuer Mond in blauer Nacht
steht hoch in meinem Himmel.

Gemini, gebundenes Blut,
trau auf den Ruf der Winde.
Geleitet von der Drachen Kraft,
so werden wir uns finden.

Gemini für alle Zeit,
auf ewig tief verbunden.
Noch kennen wir die Zukunft nicht,
sind doch von ihr umwunden.

Nahezu genervt schloss Milli ihre Augen. Dies war nun schon die dritte Nacht in Folge und wieder einmal hatte der seltsame Traum (wenn man ihn überhaupt so nennen wollte) sie um den Schlaf gebracht.
Müde wischte sie sich über die Stirn. Wieso musste sie auch jedes Mal aufwachen? Ihr Puls hatte sich noch nicht vollständig normalisiert, doch der Schreck war so schnell verflogen, wie er gekommen war. Wie immer.
Milli kannte diesen Traum, solange sie denken konnte, und es war jedes Mal dasselbe: Sie wachte klatschnass und panisch auf, öffnete die Augen – und alles war vorbei. So sehr sie auch versuchte, sich an nur ein einziges, winzig kleines Detail zu erinnern, ihr Kopf war wie leergefegt. Der Traum hinterließ niemals Bilder. Fast war es, als hätte alles in ihrem Zimmer stattgefunden. Doch was blieb, war das unerklärliche Gefühl, dass ihr irgendjemand irgendetwas sagen wollte. Etwas Wichtiges. Etwas, das sie unbedingt verstehen musste. Was blieb, war nur die Stimme. Diese tiefe, fremde Stimme und die seltsamen Worte, die sie sprach.

Noch einmal wiederholte sie die Verse, doch es half alles nichts. Mittlerweile hätte sie die Worte vermutlich rückwärts rülpsen können, aber egal, wie oft sie auch darüber nachdachte, sie konnte sich einfach keinen Reim darauf machen. Natürlich hatte sie ihre Mutter und Oma Marga gefragt, doch auch ihnen sagten die Worte nichts und als Milli selbst im Internet nicht fündig geworden war, hatte sie kurzzeitig an ihrem Verstand gezweifelt.
Doch es war wie es eben war: Die Stimme weckte sie wieder und wieder auf und vor allem in den Wochen vor Millis Geburtstagen schien sie dem Mädchen besonders häufig schlaflose Nächte zu bereiten. So auch dieses Jahr. Die Sommerferien und Millis Geburtstag waren nur noch zwei quälende Schulwochen entfernt – und die Stimme wiederholte ihre Worte Nacht für Nacht.

„Wieder dein Albtraum?“, flüsterte eine besorgte Stimme am Türrahmen.
Nickend setzte Milli sich auf. „Und das ausgerechnet heute“, klagte sie und warf einen missmutigen Blick auf ihren Wecker.
Der morgige Tag würde ein viel schlimmerer Albtraum werden! Wer auch immer es verbrochen hatte, Freitage mit einer Doppelstunde Sport bei Herrn Geiger und seiner verrückten Vorliebe für Völkerball anfangen zu lassen, gehörte nach Millis Meinung in hohem Bogen gefeuert. Menschen mit so einer sadistischen Ader konnte man doch nicht auf Stundenpläne loslassen!
„Du hast geschrien“, riss Christina ihre Tochter aus den Gedanken und reichte ihr ein Glas Wasser.
Dankbar nahm Milli das Getränk entgegen, bevor ihre Mutter die Leiter des Hochbetts hinaufkraxelte und sich neben ihr unter die Decke kuschelte. „Willst du darüber reden?“
Das Mädchen schüttelte abwehrend den Kopf. „Nix Neues.“

Es war nicht so, als wollte sie nicht mit ihrer Mutter über den Traum sprechen. Natürlich wusste Christina von der Stimme und dass Milli sich lediglich an die scheinbar zusammenhanglosen Worte erinnern konnte. Doch es gab einen kleinen Haken an der Sache. Denn das, was Milli eigentlich beschäftigte, konnte sie schlicht und ergreifend niemandem erzählen. Vor allem nicht ihrer Mutter!
Ihr Vater, oder besser gesagt „der Erzeuger“, wie Christina ihn nannte, hatte sich kurz vor Millis erstem Geburtstag aus dem Staub gemacht. Seither galt zu Hause eine einzige, unausgesprochene Regel: Mutter und Tochter gegen den Rest der Welt. So war es immer gewesen und so würde es immer sein. Und das war gut so. Doch für Milli bedeutete das auch, keine unnötigen Fragen über ihren Vater zu stellen. Sie führten meist sowieso zu nichts.
Milli wusste, was für ein unwahrscheinliches Glück sie hatte. Ihre Mutter sprach vielleicht nicht gerne über den Mann, der sie ohne ein Wort des Abschieds im Stich gelassen hatte, doch abgesehen davon hatte sie immer ein offenes Ohr für ihre Tochter. Sie ermutigte Milli dazu, Einradfahren, Slacklining oder Aikido auszuprobieren (und sich von ihrer absoluten Talentlosigkeit nicht entmutigen zu lassen), hatte eine schier endlose Sammlung an 50er Jahre Filmen und eine unerklärliche Leidenschaft für Audrey Hepburn, wenig Verständnis für Frauen mit zu vielen Schuhen, einen hervorragenden Eiscreme-Geschmack und vor allem eine Engelsgeduld. Milli fehlte es an absolut gar nichts und das hatte sie zu 100 % Christina zu verdanken.
Nur in den Nächten, in denen Milli von der dunklen Stimme geweckt wurde, zwickte ihr Herz ein klitzekleines bisschen. Und wie sollte sie das ihrer Mutter erklären?
Denn obwohl der Traum sie jedes Mal erschreckte, sehnte Milli ihn auch immer ein wenig herbei. Nicht, dass sie das jemals zugegeben hätte. Doch sie konnte das Gefühl, dass der verdammte Albtraum etwas mit ihrem Vater zu tun hatte, einfach nicht abschütteln.
Natürlich machte das gar keinen Sinn. Sie hatte ja nicht einmal eine einzige, winzige Erinnerung an ihn. Doch so lange der Traum sie schon verfolgte, so lange hielt sich auch diese unbestimmte Ahnung – oder der verzweifelte Wunsch…?

 

Kapitel 1 - Ein ungebetener Gast


Angespannt starrte Milli auf den Mond in ihrem Fenster. Vielleicht leuchteten die Laternen in der kleinen Seitenstraße mitten in der Stadt ein bisschen weniger stark als sonst; vielleicht schien der Mond auch einfach heller. So oder so hatte diese Nacht etwas Magisches. Natürlich konnte Millis flauer Magen auch mit den vier Stücken Geburtstagskuchen zusammenhängen, die sie seit heute Mittag verdrückt hatte, aber ihr Bauchgefühl sagte etwas anderes.
Den Blick gebannt auf das Fenster gerichtet, saß Milli im Schneidersitz auf ihrem Hochbett und wartete. Worauf sie wartete, das wusste sie selbst nicht genau. Aber diese Nacht war nicht nur etwas Besonderes, weil gerade die letzten Stunden ihres fünfzehnten Geburtstags zu Ende gingen. Das spürte sie einfach.
Neben ihr auf dem Kopfkissen vibrierte das Smartphone.

Wie sieht’s aus, Süße? Ist deine Mum schon weg? Julie und ich machen uns gerade auf den Weg ins SODA. Komm doch noch nach! Ciao Miau –Hannah

Ohne zu antworten, legte Milli das Telefon beiseite und schaute an sich herunter. Als ihre Mutter sich verabschiedet hatte, um eine ihrer Dienstreisen anzutreten, hatte sie sich ihren Pyjama angezogen und sich mit einem Buch und dem vorerst letzten Stück Schokokuchen auf ihr Bett gekuschelt. Ins „SODA“ würde sie so wohl kaum jemand reinlassen. Andere Mädchen stellten sich ihren fünfzehnten Geburtstag wahrscheinlich genauso vor wie Hannah: eine große Party, tanzen gehen im Club und feiern bis zum Morgengrauen. Aber für Milli waren Geburtstage absolut heilig und seit jeher ausnahmslos für Mutter-Tochter-Zeit reserviert.
„Aber ihr macht ja nicht mal was Besonderes“, hatte Hannah verständnislos gequengelt und Juliette hatte zu bedenken gegeben: „Du wirst nicht jedes Jahr fünfzehn, Milli! Das muss gefeiert werden.“
Doch Milli fand, sie hatte ihren Geburtstag ganz gebührend gefeiert. Mit Frühstück im Bett, alten Filmen, Samosas aus dem „Indian Palace“ und Schokokuchen bis zum Umfallen. Und vor allem mit ihrer Mutter.
Der Plüschwecker neben ihrer Matratze zeigte 21:53 Uhr. Je nachdem, wie alt die Batterien waren, war es also wahrscheinlich kurz vor oder kurz nach zehn. Egal wie oft man sie stellte, die türkise Puschel-Eule ging grundsätzlich fünf bis acht Minuten nach.
Milli streckte sich. Sollte sie sich noch ein Stück Kuchen aus der Küche holen? Wenn nur der Weg nicht so weit wäre … Sie zögerte, dann griff sie nach ihrem Teller. Wenn sie schon dabei war, würde sie sich direkt noch eine Eis-Schokolade machen. Schließlich wird man ja nicht jedes Jahr fünfzehn, erinnerte sie sich an Julies Worte und musste grinsen.

Mit Kuchen und Kakao ausgerüstet, öffnete sie einige Minuten später die Tür zu ihrem Zimmer. Umständlich drückte sie die Klinke mit dem Ellenbogen herunter und schob sich in den dunklen Raum.
Flatsch. Mit einem Geräusch als wäre jemand mit Anlauf in tiefen Matsch gesprungen, klatschte das fünfte Stück Geburtstagskuchen ungebremst auf die Dielen. Wie angewurzelt blieb Milli stehen.
Vor dem Fenster zeichnete sich ein dunkler Schatten gegen das helle Mondlicht ab. Reglos hockte die Gestalt auf dem Fenstersims im dritten Stock und drückte eine Hand gegen die Scheibe. Langsam setzte Milli zum Rückwärtsgang an. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie war es gewohnt ab und zu alleine zu Hause zu sein, wenn ihre Mutter geschäftlich verreiste, und normalerweise hatte sie keine Angst. Aber bisher hatten ihr auch noch keine schwarzen Gestalten vor dem Fenster aufgelauert.
„Amilia?“
Wieder blieb Milli wie angewurzelt stehen. Wer zum Henker war das?
Die Gestalt klopfte leise, aber forsch an die Scheibe, dann drückte sich ein Gesicht gegen das Glas. „Amilia, bist du das?“
Immer noch bewegungslos starrte Milli in die Nacht. Das Gesicht gehörte einem Jungen, den sie definitiv noch nie gesehen hatte. Nur woher kannte der Fremde ihren Namen?
„Bitte mach auf, Amilia, ja? Ich bin Lorean und ich habe eine wichtige Nachricht für dich.“
Ja nee, ist klar, wichtige Nachricht. Wahrscheinlich standen unten auf der Straße Hannah und Julie, um sie abzuholen. Nervensägen.
Mit dem Gefühl, die Situation durchschaut zu haben, entspannte sich Milli und ging einige Schritte auf den Schreibtisch zu. Sie war gerade auf den Tisch geklettert, um das Fenster zu öffnen, als ihr erneut ein Gedanke kam. Wieso würden ihre Freundinnen nicht einfach klingeln? Oder anrufen? Und welcher Wahnsinnige würde für einen blöden Scherz in den dritten Stock klettern? Wieder hielt sie in ihrer Bewegung inne. Aufmerksam musterte Milli den Jungen, der unsicher lächelnd im Mondschein hockte. Nachdenklich stellte sie ihre Tasse auf dem Schreibtisch ab und knipste die Lampe an. Kurz geblendet, kniff der Junge die Augen zusammen. Von Nahem erkannte Milli, dass er einen Zopf und irgendwie komische Kleidung trug. Hatte er etwa Leggings an?
„Machst du mir jetzt auf?“, fragte er nun weniger höflich und klopfte noch einmal mit den Knöcheln gegen die Fensterscheibe.
Mit hochgezogenen Augenbrauen und verschränkten Armen setze Milli sich dem Jungen gegenüber auf die Tischplatte. Was fiel ihm ein jetzt auch noch frech zu werden? Es war ja nicht gerade so, dass sie ihn auf ihre Fensterbank eingeladen hatte und jetzt zappeln ließ. Herausfordernd blitzte sie den Jungen aus blauen Augen an.

(...)